(Ein Gastbeitrag von Eva Berger)
Im privaten Nachlass1 von Elisabeth Siegel findet sich ein Neujahrsgruß für 1938. Ein Rn. Oppermann2 schrieb aus Diepholz an „Frau Siegel“ am 30.12.1937 und wünschte viel Glück für das Leben in Bremen.
Den Neujahrsgruß zierte die Abbildung eines „eigens für Sie photographierten Denkmal“, wie es im Text heißt.
Zu sehen sind aufeinander gestellte geometrischen Körper auf einem Sockel, ihre ewige Balance haltend: Ein Würfel, ein Zylinder und eine Kugel. Das Denkmal steht in einer Waldlichtung. Im Hintergrund am Wegesrand sitzt ein Paar auf einer Bank und sieht aus der Lichtung hinaus in die Ferne.
Die Skulptur soll an den Pädagogen Friedrich Fröbel (1782-1852) erinnern und steht im Marienthaler Wäldchen bei Bad Liebenstein in Thüringen. Zur Förderung der Entwicklung von Kleinkindern hatte Fröbel empfohlen, den Kleinkindern ‚Spielgaben‘ zu reichen mit denen sie ihre motorischen Fähigkeiten trainieren konnten. Ein Jahrhundert später beflügelten die geometrischen Körper angehende Designer:innen zur Gestaltung von Bauklötzen für Kinder. Fast zwei Jahrhunderte später assoziieren vermutlich nur noch wenige Pädagog:innen die Formen mit Friedrich Fröbel.
Als die Karte Elisabeth Siegel in Marburg erreichte, besuchte sie dort über die Feiertage ihre Eltern. Sonst lebte und arbeitete sie zu diesem Zeitpunkt in Bremen, wo sie seit April 1934 an der Staatlichen Fachschule für Frauenberufe eine Stelle als Lehrkraft innehatte, um dort angehende Kindergärtnerinnen auszubilden. Ihr war die historische Bedeutung Friedrich Fröbels für die Berufsausbildung von Frauen mehr als bekannt. Sie hatte Pädagogik und Sozialpädagogik studiert und ihre Doktorarbeit über Begründer der modernen Pädagogik verfasst, zu denen Friedrich Fröbel gerechnet wird. Seine Lehre über die Sinnhaftigkeit einer im frühen Kindesalter einsetzenden Förderung führte letztlich zur Einrichtung von Kindergärten. In diesen Einrichtungen sollten sich Körper, Geist und Herz (Seele) der Kinder unabhängig von den Lebensumständen ihrer Eltern altersgerecht entwickeln können.
Im Jahre 1937 hatte Elisabeth Siegel in ihrem Unterricht für angehende Kindergärtnerinnen sicher auf das 100jährige Jubiläum der von Fröbel eingerichteten „Pflege-, Spiel- und Beschäftigungsanstalt für Kleinkinder“ hingewiesen. Kinderbetreuung, so wird Elisabeth Siegel ihren Schülerinnen vermittelt haben, heißt nicht Befehlen und Kontrollieren sondern Fördern und Begleiten des Kindes.
Der durch Friedrich Fröbel begründete methodische Umgang mit Kindern in der damals neuen Einrichtung ‚Kindergarten‘ führte 1851 in Preußen zum Verbot. Kindergärten galten als Unruheherde, gleichzusetzen mit der gefährlichen Gedankenwelt von Freigeistern; Horte, in denen Kinder ohne jegliche Gottesfurcht heranwuchsen. Der pädagogische Ansatz Fröbels gefährdete, so die Überzeugung der damaligen preußischen Staatsmacht, das herrschende Gesellschafts-system. Sicher nicht nur, weil für Kinder hier ‚Freiräume’ geschaffen worden waren, sondern auch, weil diese Freiräume einen neuen Frauenberuf entstehen ließen, der eine staatlich nicht gewünschte Unabhängigkeit unverheirateter Frauen implizierte. Das Verbot der Kindergärten wurde 1861 aufgehoben.
Der Neujahrsgruß für 1938 aus Thüringen war ein Gruß von Pädagoge zu Pädagogin. Vielleicht eine Versicherung an Gemeinsamkeiten, eine Bestätigung der Gültigkeit von Fröbels Lehre und dessen Menschenbild. Denn die Abhängigkeit zwischen pädagogischer Theorie, öffentlichem Bildungsauftrag und regierender Staatsform war Lehrenden stets bewusst; in den Jahren nach 1933 erlebten viele Lehrkräfte sie direkt spürbar mit dem Verlust ihrer Stellen. So auch Elisabeth Siegel, die im April 1933 aus ihrer Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Akademie Elbing, heute Elbląg, entlassen worden war. Wie bei tausenden Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, wurde die Kündigung mit dem ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ gerechtfertigt. Elisabeth Siegel galt als politisch unzuverlässig, ihre „bisherige politische Betätigung“, wie es im § 4 hieß, bot keine Sicherheit, dass sie dem neuen Regime „rückhaltlos“ folgen würde. Eine Unzuverlässigkeit, die auch dem Direktor der Pädagogischen Akademie Elbing Otto Haase unterstellt wurde. (Haase ging nach Hannover und konnte dort in einer Volksoberschule unterrichten.)4
Als Elisabeth Siegel im April 1934 in der Staatlichen Fachschule für Frauenberufe in Bremen eine neue Anstellung fand, hatte sich dort das Ausbildungsangebot bereits den Grundsätzen des NS-Regimes angepasst. Elisabeth Siegel wurde beauftragt, mit dem neu geschaffenem Berufszweig der Volkspflegerinnen, offiziell seit 1.4.1934 in die „soziale Frauenschule für Wohlfahrtspflegerinnen“ eingegliedert, einen Lehrplan zu erarbeiten. Einzige Vorgabe für diesen Lehrplan war es, die Leitlinie „ausgehend vom Gesunden“ zu befolgen.5 Eine zurückhaltende Formulierung für die rassistische Politik des Hitler-Regimes, das mit den ‚Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935, insbesondere mit dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ die Basis für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuf.
Die Oppermannsche Neujahrskarte mit dem Denkmal für Friedrich Fröbel, „extra für Sie fotografiert“, lässt die Vorstellung zu, hier wurde Elisabeth Siegel ein aufmunternder Solidaritäts-Gruß geschickt: „Es gibt ja Vieles, was man Ihnen wünschen möchte für Ihr Leben“, heißt es auf der Karte.
Für Elisabeth Siegel wurde das Jahr 1938 ein Jahr großer Veränderungen. Zuerst kam die Kündigung. Dieses Mal wurde die Entlassung mit den geringen Anmeldungen für den von Elisabeth Siegel vertretenen Ausbildungskurs begründet. Es folgte eine Einstellung in Magdeburg.
Richard Hanewald5, Direktor der Viktoriaschule, holte sie an die Höhere Mädchenschule, in der zusätzlich weiterführende Lehrgänge zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen angeboten wurden. Kindergarten und Hort kooperierten mit der Viktoriaschule, so dass die angehenden Betreuerinnen in den Einrichtungen Praxiserfahrung sammeln konnten. Elisabeth Siegel lehrte Deutsch und Pädagogik und war ab 1939 ausschließlich mit dem beruflichen Ausbildungsweg zur Kindergärtnerin bzw. Hortnerin betraut. Die Zeichnung von Elisabeth Siegel ist in Magdeburg entstanden. Der ehemalige Kunstlehrer Fritz Weißenborn kehrte während der Kriegsjahre, als die aktiven Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen wurden, an die Schule zurück. Heute ist die ehemalige Höhere Mädchenschule ein Gymnasium und nach dem Philosophen Hegel benannt.
- Der Neujahrsgruß ist noch in Privatbesitz, soll aber dem Niedersächsischen Landesarchiv Standort Osnabrück, Erw A 54, Nachlass Elisabeth Siegel 2026 übergeben werden. ↩︎
- Wahrscheinlich Rainhard Oppermann. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Herman Nohl, Briefe: COD. Ms H. Nohl. 380 Beil. 2-3. ↩︎
- Otto Haase (*1893 in Köln; †1961 in Hannover) war nach 1945 Mitbegründer der Pädagogischen Hochschulen. https://www.deutsche-biographie.de/pnd116348712.html#ndbcontent NLA Hannover Nds. 400 Acc. 27/95 Nr. 36 Prof. Dr. Otto Haase, Ministerialdirigent, Laufzeit 1943–1955. ↩︎
- Elisabeth Siegel, Dafür und dagegen. Ein Leben für die Sozialpädagogik, Stuttgart 1981, S. 110 und Staatsarchiv Bremen 4.39/51 Berufliche Schulen für Hauswirtschaft und Sozialpädagogik. ↩︎
- Richard Hanewald (*1882 in Magdeburg, †1959 in Flensburg) war ein Reformpädagoge, der in der Weimarer Republik einen Schulversuch in Magdeburg leitete, der das Lehrmodell von Berthold Otto (*1859 in Bienowitz; †1933 in Berlin) in die Praxis umzusetzen versuchte. Vgl. Reinhard Bergner, Die Berthold-Otto-Schulen in Magdeburg, 1999. ↩︎
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Redaktion (7. Mai 2025). Ein Neujahrsgruß als Zeichen der Solidarität. Adolf-Reichwein-Hochschule. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13vjc